philosophie

Wir leben schnell. Unser tägliches Tun wird begleitet von Hektik und Stress. Unzählige Maschinen haben wir erfunden,
die schneller laufen, arbeiten, speichern, bauen, bewegen, kombinieren und kontrollieren, als wir es je könnten. Sie sollten uns
das Leben erleichtern und Abläufe in ihrer Struktur vereinfachen. Doch nun laufen wir atemlos dem Tempo unserer Maschinen
nach. Technischer Fortschritt, Mobilität und Dynamik halten uns ständig auf Trab. Am Rand unseres Alltags steht alle
Augenblicke ein Termin wie ein ungeduldiger Verkehrspolizist der uns zuwinkt: "Weiter, weiter..."

Das Langsame ist ein Störenfried, ein untüchtiger Träumer, ein Sicherheitsrisiko. In diesem Karussell des Lebens kommen wir
kaum mehr an die innerste Achse, wo man langsamer kreisen könnte, nein, wir werden an die Peripherie hinausgeschleudert,
wo alles in rasendem Tempo vorbeihuscht. Wir sind Menschen des Augenblicks geworden, deren Ereignisse nur kurz aufblitzen
um dann sofort wieder zu verblassen. Bedacht auf seinen Nutzen und Vorteil, fasziniert von seiner Lust, bestimmt vor seiner Mode,
mit wenig Sinn für den Blick auf große Ziele und wenig Verbundenheit mit dem kostbaren Erbe von gestern,
einem verminderten Gespür für das zeitlos Gültige und einem tiefen Misstrauen gegenüber der Zukunft.

Die Berge aber ruhen über dieser unstet treibenden Welt. Ihre Konturen sind immer dieselben geblieben für den Steinzeitjäger,
den römischen Legionär, den Pilger des Hochmittelalters und Herrn Müller mit Familie auf dem Campingplatz. Sie grüßen uns heute noch so, wie sie es stets getan haben. Und wenn sie die zehnte Generation nach uns grüßen, wird Vieles anders sein, aber die Berge werden keine Miene verzogen haben. Die Uhren der Versteinerungen in ihrem Innern ticken nicht in Sekunden, sondern in
Jahrtausenden. Die Blumen der Bergkristalle brauchen Weltzeitalter zum Erblühen. "Was willst du, aufgeregter, wichtigtuerischer Mensch des 21. Jahrhunderts?" fragt der Berg. "Der Bach, an dem du vorbeigehst, hat seine Schlucht in Jahrmillionen gegraben.
Der Stein, über den du stolperst, hat Eiszeiten und Kreidemeere gesehen."

Am Berg verstehen wir den alten Indianer, der bei seiner ersten Autofahrt nach einer Stunde aussteigt und sich an den Straßenrand setzt: "Was ist los mit dir", fragen ihn die anderen, "ist dir schlecht?" - "Nein", antwortet er
"ich muss nur warten, bis mein Herz nachkommt..."

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Alles ist laut: Motoren, Maschinen, Sirenen, Autobahnen, Flugzeuge. Dauernd strapazieren wir unsere Organe und Sinne,
die ja eigentlich für verhaltenere Töne geschaffen wurden. Und selbst Farben können "laut" sein, wenn sie sich uns in Form von Scheinwerfer, Neonröhren, Schlagzeilen und permanenter Werbung aufdringen und sich in unserem Bewusstsein festsetzen wollen.

Selbst wenn man zweitausend Meter darüber ist, dröhnt dumpf der Lärm der Stadt herauf. Aber wenn man dann nur ein paar Meter
auf die Nordseite hinüberwechselt vermag man die Stille zu vernehmen. Geräusche werden dann zur Seltenheit: ein rollender Stein,
den eine querende Gemse losgetreten hat, der Schrei einer Dohle am Steilhang. Man könnte sich vorstellen, dass diese gewaltige,
stille Welt für manche Menschen heute im ersten Augenblick belastend ist. Wir sind zu sehr die Flucht in den Lärm gewöhnt, damit
wir nicht zu uns kommen und ja nichts ausbrechen kann, was da verdrängt und ungelöst in unserer Seele lauert. Dabei ist dieses majestätische Schweigen die erste Therapie, die die Berge für uns gehetzte, verwirrte, abgelenkte und oberflächliche Menschen
bereit halten. Wer die Botschaft der Berge hören und zu sich selbst finden will, muss sich auf diese Therapie einlassen.

Wahrscheinlich ist das erzieherische Tun noch nie so wortreich gewesen wie heute. Aber all unsere Reflexionen und Verbalisierungskünste, unser Reden und Schreiben, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das eigentliche Ziel aller Pädagogik sehr oft nicht getroffen wird: das Herz. Große Erzieher sind oft sehr stille Menschen. Und auch die Berge sind schweigende Lehrer.
Sie diskutieren, argumentieren und überreden nicht, sie drängen sich nicht mit penetranter Rhetorik auf.
Sie überlassen uns ihre Interpretation und was wir daraus ziehen können, jedem für sich.


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Seit Beginn der Menschheit gab es immer schon eine unterschwellige, manchmal elementar hervorbrechende Sehnsucht nach dem rauschhaften Erleben, nach einem ekstatischen Hingerissensein. Es mag nach Völkern und Kulturen etwas Verschiedenes sein, vielleicht auch nach dem Lebensalter und der eigenen Persönlichkeit. Der junge Mensch ist auf eine erlebnisintensive Begegnung mit dem Dasein mehr angewiesen als der Erwachsene, der sein Leben schon stärker aus den festgefügten Bahnen der Überzeugungen, Pflichten und nüchternen Notwendigkeiten lebt. Die Hauptsache ist aber: diese Sehnsucht existiert und wir verspüren sie!

Und wenn gar nicht wenige den Versuchungen von trügerischen Räuschen wie z. B. den durch Drogen oder Gewalt erliegen,
dann verbirgt sich dahinter doch ein elementares Bedürfnis - ein verzweifeltes Aufbäumen gegen ein tristes Dasein, eine drückende Vereinsamung, sinnlose Leere oder einen zu erlebnisarmen Alltag. Wer in die Berge "flieht", und deren Rausch gekostet hat, fühlt sich davon losgerissen und hat seinen Ersatz gefunden. Die Erinnerungen halten bis ins hohe Alter, auch ohne dass man sie mit einer Kamera festhalten müsste. Das ist der Grund weshalb wir ihrem Ruf immer wieder auf's Neue folgen und versuchen uns selbst zu begreifen.

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